Sonntag, 9. Januar 2022

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 Predigt zur Jahreslosung 2022

(Es gilt das gesprochene Wort! Gehalten am 09.01.2022 in der Eben-Ezer Kirche Martha-Maria Nürnberg)

 

Welche Sätze möchtet ihr 2022 dringend hören? 

Wir fangen mal an: #wunschsätze22


·      „Kein Bock mehr auf Politik. Ich mache ein Sonnenstudio auf.“ – Donald Trump

·      „Wir begrüßen die Spieler der Spielvereinigung Greuther Fürth und des 1. FC Nürnberg zum Derby in der 1. Bundesliga.“ – Stadionsprecher Max-Morlock-Stadion

·      „Wir können leider nicht nach Katar fliegen, weil wir das gesamte Vereinsvermögen an die Welthungerhilfe gespendet haben.“ – Uli Hoeness

·      „Wir zahlen unseren Näher:innen deutschen Mindestlohn und haben veranlasst, dass es in allen Betrieben Betriebsräte gibt.“ – Pressemitteilung der Bekleidungsindustrie.

·      „Wir haben die Pandemie genutzt, um ganz unkompliziert eine weltweite Strategie zur Verhinderung der Klimakrise zu verabschieden.“ – die Regierungen der Welt

·      „65 kg“ – die Waage

·      „Endlich haben wir würdige Arbeitsbedingungen und faire Löhne.“ – jede Pflegefachkraft in Deutschland

·      „Natürlich sind Kinderrechte wichtiger als Lobbyisten-Interessen.“ – die Bundesregierung

·      „Glückwunsch zum Lotto-Hauptgewinn!“ – der Verkäufer an der Lottoannahmestelle

·      „Die Evangelisch-methodistische Kirche ist eine wachsende Kirche“ – der Statistiker beim Statistikbericht der Süddeutschen Jährlichen Konferenz 2022

·      „Die Corona-Pandemie ist erfolgreich gemeistert worden. Feiern Sie.“ - Karl Lauterbach und Olaf Scholz

·      „Wir haben die Armut besiegt.“ – UN-Bericht 2022

·      „Tatsächlich ist die überarbeitete Fassung ihres Romans so, dass wir sie sehr gerne veröffentlichen wollen!“ – der Verlag

·      „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.“ – Jesus Christus im Johannes-Evangelium


Liebe Gemeinde!

Welchen Satz möchtest du 2022 hören?

Was braucht dein Herz?


Sicher keine Sätze wie:

„Du kommst hier nicht vorbei!“ Oder:

„Weg da – das ist nichts für dich!“ Oder:

„Jetzt stell dich nicht so an – lass mich mal ran.“

„Hau ab!“

Das sind Sätze, die machen uns klein. Erinnern an Hilflosigkeit, an schlechte Erfahrungen in der Kindheit und Jugend.


Die Sätze, die wir gerade gehört haben, haben eine erstaunlich Kraft. Sie laden uns ein, positiv in die Zukunft zu blicken. Unsere Wünsche zu formulieren. Das sind richtige Power-Sätze.


Die Jahreslosung 2022 ist auch mit dabei: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

Bei einem Seminar zum Predigtschreiben habe ich gelernt, dass man das Wort „nicht“ in Predigten vermeiden soll. Mit dem Wort „Nicht“ versuchen wir mit negativen Bildern etwas Positives zu betonen. Aber bei den Hörenden entstehen nur die Bilder im Kopf, die ich verneine und somit wird genau das Gegenteil verstärke, das was ich eigentlich nicht sagen möchte.

Nicht hinausstoßen / nicht abweisen das klingt jetzt erst mal nicht nach Power. Hinausstoßen / abweisen – ja, das sind kraftvolle Worte. Schmerzhafte Worte. 


Jede/r von uns kennt das Wort Synonym, es beschreibt die Gleichheit von zwei unterschiedlichen Worten. Es gibt aber auch das weniger bekannte Wort Antonym. Es beschreibt genau Gegenteil eines Wortes.

Und ich habe nachgeschaut was diese Antonyme für das Wort „abweisen“ sind: 

akzeptieren, annehmen, aufgreifen, aufnehmen, entgegenkommen, entgegennehmen, empfangen, erhalten, übernehmen.

Warum übernimmt Jesus / Johannes nicht diese Worte, um eine kraftvolle Aussage zu machen? Warum heißt es nicht: Wer zu mir kommt – den werde ich aufnehmen?!

Vielleicht weil wir so oft eher das Gegenteil erfahren. Wir erleben hinausgeworfen werden, abgestoßen, zurückgesetzt. Und das brennt sich tief in unsere Seele ein. Es tut weh, verletzt, hinterlässt Narben. Braucht Zeit zum Heilen.

Eine solche Erfahrung wiegt viel schwerer, als viele „Herzlich willkommen.“ Es macht uns unsicher – verunsichert – misstrauisch. Meint es mein Gegenüber wirklich so herzlich? Oder ist das nur eine Floskel, solange ich mich mit dem Gegenüber gut verstehe?


Mir fällt die wundervolle Geschichte von Rachel Naomi Remen ein: „Der Segen meines Großvaters“. Darin erzählt sie von Neshumele – geliebte kleine Seele. Das ist der Kosenamen, den der jüdische Großvater seiner Enkelin gibt. Immer Freitag Nachmittags kommt sie ihn besuchen. Sie trinken gemeinsam Tee und dann zündet der Großvater zwei Kerzen an. Die Enkelin stellt sich vor den Großvater und der legt seine Hände auf ihren Kopf und segnet sie. Aber nicht nur mit dem für uns so gewohnten Segen am Ende eines Gottesdienstes. Nein, er tut das sehr, sehr ausführlich. Das Mädchen ist jede Woche wieder neu gespannt, was sie über sich erfahren wird. Denn Woche für Woche preist der Großvater Gott dafür, dass es seine Neshumele gibt. Er lobt sie vor dem Angesicht des Höchsten. Und dort, wo sie selbst sich als gescheitert sieht – lobt der Großvater die großen Bemühungen. Ja selbst wenn sie nur kurze Zeit für etwas Mut hatte, ist es für den alten Mann wert hervorgehoben zu werden. 

Diese Sicht des Großvaters auf das Leben der Enkelin, lässt auch sie ihr Leben mit neuen Augen sehen. Der Leistungsdruck, der draußen herrscht, fällt von ihr ab. Nie fragt der Großvater, ob sie genug getan und sich ausreichend angestrengt hat. Ob die Zwei nicht auch einen Eins hätte werden können.

Allein ihr Dasein ist genug.

Das nimmt sie mit in ihr Leben. Auch als der Großvater schon längst gestorben ist, ist sie signiert / gezeichnet (signiert von Signum – Zeichen) mit seiner Liebe. Unser Wort Segen – stammt von diesem lat. Wort signum. Es ist, als hätte der Großvater ihr ein „Herzlich willkommen“ eingeprägt. – Gottes „Herzlich Willkommen“. So hat „Neshumele“ – die geliebte kleine Seele eine Sicht auf sich selbst verinnerlicht, die den Segen des Großvaters weiter trägt. Sein Segen wird sie ein Leben lang wärmen.


Seit ich diese Geschichte zum ersten Mal gelesen habe, begleitet sie mich. Und sie illustriert auf schöne Weise, was in der Jahreslosung uns zugesprochen wird. „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

Gesandt und gesegnet von Gott selbst kommt er zu uns Menschen. Er heißt die willkommen, die ihm begegnen. Er zeichnet sie mit seiner Liebe und verändert ihr Leben. Der Vers, der als Jahreslosung für 2022 ausgewählt wurde, steht in einer längeren Rede Jesu im Evangelium nach Johannes, zusammen mit Sätzen wie „Wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern; und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“ Jesus wirbt in dieser Rede um Menschen. Er sieht ihre Not und sagt: „Kommt!“ Dass es funktionieren kann, hatten Menschen wenig vorher erlebt: 5.000 Menschen wurden von fünf Broten und zwei Fischen satt. Gottes bedingungslose Liebe wird in Jesus Christus sichtbar, greifbar, erfahrbar.


„Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht ablehnen – außer du bist homosexuell, eine Frau, oder du hast eine Behinderung...“

Ist das Fortführen der Jahreslosung übertrieben, falsch, nur polemisch? Vielleicht. Vielleicht sind meine Erfahrungen der letzten Jahre auch singulär, aber ich fürchte wir haben es sowohl mit ungewollten als auch gewollten und manchmal sogar theologisch begründeten und strukturell verankerten Exklusionsdynamiken zu tun, die Menschen beabsichtigt und/oder unbeabsichtigt herabsetzen und ausgrenzen. Aber wie kann es sein, dass ausgerechnet die Kirche, Gottes Experimentierraum der Liebe und Gnade auf Erden, zu so etwas fähig ist? Was ist los mit der Gemeinde Gottes?


Als Jesus auf der Erde lebte, so wird von ihm erzählt, war er zugleich auch im Himmel zu Hause. So wie Jesus in diese unvollkommene Welt gekommen ist, so beginnt das ewige Leben hier und heute mitten im Unvollkommenen. Und so sättigt das Brot den Hunger der Menschen und das Brotwunder offenbart die Macht und Kraft Gottes. Beim Essen des Brotes schmecken die Menschen ein Stückchen Ewigkeit. Mit Jesus beginnt das Reich Gottes hier auf Erden und der Himmel wird ein Stück sichtbarer. Jesus ist das lebendige Brot und deshalb sagt er von sich: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“

„Wer zu mir kommt“ und mir begegnet, von und mit mir isst, Gemeinschaft feiert, der wird verwandelt werden. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“


Jesus war ein Meister darin, Exklusionsgrenzen der damaligen Zeit zu überwinden. Er hat mit den Menschen gegessen, gefeiert und geredet. Jesus liebt die Gemeinschaft mit Menschen, hat keine Vorbehalte, sondern spricht den Menschen Anerkennung und Zugehörigkeit zu. Ja, Jesus sieht es sogar als seinen Auftrag, das zu suchen, was verloren und ausgegrenzt ist. Jesus stellt sich auf die Seite der Ausgegrenzten und ruft sie in seine Nachfolge. Jesus isst mit den Zöllnern und den Prostituierten, berührt die blutflüssige Frau, die Aussätzigen. Seine inklusive Gemeinschaft hat eine heilende Wirkung und führt die Menschen zu ihrer geschaffenen Ebenbildlichkeit. So wie es sein soll.

Gottes bedingungslose Liebe zeigt sich genau darin. Sie kennt kein „Ich liebe dich trotzdem.“ Sie zwingt uns kein: "Entschuldigung, ich muss zur Huldigung!" auf. Sie sagt: Ich liebe dich – Punkt.


Das ist wohl das schwerste, was wir lernen und annehmen können. Wir erleben und lernen in unserem Leben so oft, dass Liebe an Bedingungen geknüpft wird. Wir kennen erpresserische Liebe („Wenn du das oder jenes tust / nicht tust, dann liebe ich dich.“) Wir kennen und erfahren ausgrenzende Liebe: (Ich liebe dich, außer du bist, tust...).

Ausgrenzen, abgrenzen verursacht Scham. Scham ist ein starker Exklusionsfaktor und ist oftmals unsichtbar und verletzend.

Wenn wir von Ausgrenzung unterschiedlicher Minderheiten und deren fehlendem Recht auf ein gleichberechtigtes Miteinander in der Gemeinde reden, dann ist dies sicherlich kein exklusiv kirchliches oder theologisches Problem, sondern wir sind geprägt von einer Gesellschaft, die uns darin geradezu prägt. Exklusion beschreibt den Mechanismus, der Menschen als für die Gesellschaft überflüssig erklärt und die deshalb keinen regulären Platz bekommen. Oftmals hat dies mit den großen Themen Geld, Arbeit, Status und der Frage nach der Nützlichkeit und Produktivität eines Menschen zu tun.

Ob Ausländer, Aussätzige oder Ausgegrenzte, Jesus vorbildhaftes Leben hat immer auch eine Integration in die Gesellschaft zur Folge gehabt, immer eine Integration in die Gemeinschaft mit Gott, war geleitet von Gnade und Barmherzigkeit. „Ich liebe dich – Punkt.“ 

Nicht abweisen – das ist mehr als ein Willkommen, das solange hält, wie die ausgesprochenen oder unausgesprochenen Bedingungen erfüllt werden.

Nicht abweisen – das ist ein Versprechen, das mir die Scham nimmt, weil es keine Exklusivität darin gibt.

Nicht abweisen – das ist der liebevolle Blick Gottes auf mich, der mir hilft auch mich selbst mit anderen Augen ansehen zu können. Ich lasse seine Liebe für mich gelten und ruhe mich von meinen Ansprüchen aus.

Ich vergewissere mich, dass sein Segen über meinem Leben steht – fest, unverrückbar, signiert – auch ich eine Neshumele – eine geliebte Seele.

Nicht abweisen – Ich liebe dich. Punkt.

 

Sätze, die ich 2022 hören möchte?

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen – weil ich dich liebe, Neshumele – Punkt!“

Amen